Problemfelder sensorischer Reize und Konflikte in der Kommunikationsvermittlung.
Von Prof. Dr. Alfred-Joachim Hermanni
2019
1 Einführung
Historisch betrachtet prägte das Sender-Empfänger-Modell nach Claude E. Shannon und Warren Weaver aus dem Jahr 1949 das Verständnis der Kommunikation als Prozess der Informationsvermittlung. Auf technischer Ebene findet ein Transport von Informationen als linearer Einweg-Prozess zwischen einem Sender/Transmitter (der die Informationen in materielle Signale encodiert) und Empfänger/Receiver (der die Signale decodiert) statt.
Ursprünglich wurde das Modell unter dem Blickwinkel des Mediums Telefon entwickelt, um potenzielle Störungen bei der Signalübertragung (z.B. durch Rauschen, verzerrte Funkwellen oder Bildstörungen) zu erkennen. In diesem Kontext verlief eine Kommunikation erfolgreich, wenn die technische Signal-Übertragung neutral und störungsfrei ablief und die gesendete Nachricht mit der empfangenen identisch war.
Technische Störungen bei der Übertragung von Botschaften treten heute deutlich seltener auf als noch im 20. Jahrhundert – dank moderner, digitaler Übertragungstechnologien. Dennoch kann es gelegentlich zu Einschränkungen kommen, etwa bei schlechtem Handyempfang trotz WLAN-Verbindung oder bei UKW-Radio durch äußere Störeinflüsse.
Abgesehen von den bekannten technischen Störungen im Prozess der En- und Decodierung rückt zunehmend eine andere Dimension in den Fokus: Welche Rolle spielen sensorische Reize im Kontext kommunikativer Störungen? Und könnte es sein, dass den menschlichen Sinnen bei der Informationsübermittlung bislang unterschätzte Bedeutungen zukommen – mit Auswirkungen auf bisher kaum erforschte Störquellen in der Kommunikation?
2 Kann man menschliche Sinne als Medien bezeichnen?
Ausgehend von einem erweiterten medien- und kommunikationstheoretischen Verständnis, wie es bei McLuhan (1964), Krämer (2008) und Noë (2004) angelegt ist, lassen sich die menschlichen Sinnesorgane als originäre Medien auffassen. Sie übernehmen eine zentrale Vermittlungsfunktion zwischen physikalischen Umweltreizen und subjektiver Wahrnehmung und bilden damit die Grundlage für jede mediale Rezeption. In dieser Funktion wirken sie nicht nur rezeptiv, sondern auch selektiv, interpretativ und strukturierend – sie filtern, gewichten und gestalten den Wahrnehmungsprozess aktiv mit. Vor diesem Hintergrund erscheinen die Sinnesorgane als „Filtermedien“, die maßgeblich beeinflussen, was und wie medial vermittelte Inhalte wahrgenommen, kognitiv verarbeitet und emotional bewertet werden.
Marshall McLuhan (1964) vertritt die These, dass Medien nicht auf technische Artefakte beschränkt sind, sondern als Erweiterungen menschlicher Sinnesfähigkeiten zu verstehen seien: „All media are extensions of some human faculty – psychic or physical“ (McLuhan, 1964, S. 26). In dieser Perspektive ist das Auge ebenso ein Medium für visuelle Reize wie die Kamera oder das Ohr für akustische Signale – die Sinnesorgane selbst werden zu vermittelnden Medien der Wirklichkeitskonstruktion.
Diese Position wird durch Ansätze aus der modernen Kognitionswissenschaft, insbesondere der Theorie der embodied cognition, gestützt. Wahrnehmung wird hier nicht als rein rezeptiver Prozess verstanden, sondern als aktives Tun. Alva Noë formuliert zugespitzt: „Perception is not something that happens to us, or in us. It is something we do.“ (Noë, 2004, S. 1). In diesem Sinne sind die Sinne nicht bloße Kanäle, sondern aktive Medien kognitiver Welterschließung.
Sybille Krämer (2008) begreift Medien im allgemeinen Sinne als jene Instanzen, die Übertragung überhaupt erst ermöglichen. Sie argumentiert: „Ein Medium ist nicht, was überträgt, sondern was Übertragung überhaupt ermöglicht“ (Krämer, 2008, S. 28). Damit rückt sie die vermittelnde Rolle der Sinne in den Fokus einer erweiterten Medienontologie.
Auch in der Kommunikationspsychologie finden sich Hinweise auf eine derartige Ausweitung des Medienbegriffs. Pörksen und Schulz von Thun (2008) betonen: „Medien beginnen nicht bei der Technik, sondern bei der Fähigkeit zur Wahrnehmung.“ (S. 57). Die Wahrnehmung ist demnach selbst eine mediale Grundbedingung, nicht lediglich ein passives Gegenstück technischer Übertragungsformen.
Vor diesem theoretischen Hintergrund lassen sich die Sinnesorgane also als konstitutive Medien der Kommunikation und Wirklichkeitswahrnehmung interpretieren. Sie stehen nicht außerhalb medialer Prozesse, sondern bilden deren erste, leiblich fundierte Ebene.
3 Problemfelder der Kommunikationsvermittlung
Die medientheoretische Betrachtung menschlicher Sinnesorgane als vermittelnde Instanzen wirft die Frage auf, inwieweit der Informationsgehalt einer Nachricht im Rahmen menschlicher Kommunikation durch störende Einflüsse auf der Ebene der Sinneswahrnehmung beeinträchtigt oder verfälscht werden kann.
In den Phasen des Kommunikationsprozesses treten nach Alfred-Joachim Hermanni Diskrepanzen zwischen en- und decodierter Botschaft auf, zumal im Allgemeinen neben der Sprache auch nonverbale Signale wie Mimik und Gestik gesendet werden und menschliche Sinne den Transfervorgang zwischen Übertragung und Empfang beeinflussen. Hermanni versucht universale Störquellen bei einer Sender-Empfänger-Übertragung zu identifizieren und unterscheidet hier zwischen vier großen Problemfeldern:
- Erstens Problemfelder, die durch technische Komplikationen bei der Signalübertragung einschließlich Nebengeräusche oder fehlerhaftes Empfangen der Botschaft auftreten (vgl. Sender-Empfänger-Modell nach Shannon und Weaver).
- Zweitens Problemfelder, die durch fehlende oder fremdartige kulturelle Bildung entstehen können. Darunter fallen Bildungskonflikte (fehlende Kenntnisse oder Abschlusszertifikate, Mangel an Bildung laut Kompetenzstufen des PISA-Tests, Kommunikationspartner stammen aus unterschiedlichen Kulturkreisen) oder gehören verschiedenen Generationen an sowie sprachliche Komplikationen (falsche oder unzureichende Interpretation der Botschaft - bedingt durch Fremdsprache oder Dialekt, Übersetzungsfehler von einer Sprache in eine andere).
- Drittens Problemfelder, die durch äußere und interpersonelle Reize auftreten können. Hierzu zählen chemische Reize, hautintensive Reize, akustische Beeinträchtigungen und Seheinschränkungen: (1) Seheinschränkung (durch Licht; Einschränkung der visuellen Wahrnehmungsfähigkeit bei nonverbaler Kommunikation, bspw. durch Sichtbehinderungen, Blindheit, Farbenschwäche). (2) Akustische Beeinträchtigungen (durch Schallwellen, bspw. laute Geräuschkulisse, Ablenkungen durch parallele Gespräche, Nebengeräusche von Menschen, Beeinträchtigungen des Gehörsinns). Hier kann es zu einem Cocktailparty-Effekt (auch intelligentes oder selektives Hören genannt) kommen, bei der der menschliche Gehörsinn aus mehreren Schallquellen die Anteile einer bestimmten Schallquelle aus dem Gemisch des Störschalls extrahiert (vgl. Cherry). (3) Hautintensive Reize (bspw. durch sehr hohe oder niedrige Temperaturen, intensive Berührungen und durch Druck, Beschleunigung und mechanische Dehnung bspw. beim Sport). (4) Chemische Reize (bspw. durch intensive Gerüche wie Parfum und Schweiß, durch ablenkenden Geschmacksinn, bspw. durch Verzehr von Lebensmitteln beim Übertragungsprozess). (5) Interpersonelle Reize (bspw. durch spontane Sympathie oder Antipathie gegenüber anderen Menschen; durch äußere, optische Attraktivität von Menschen im Auge des Betrachters; durch fehlende Wohlfühldistanz und/oder Signale von Individuen, die sie durch das Einnehmen einer bestimmten Distanz zueinander austauschen). (6) Fehlende Kongruenz (Übereinstimmung) zwischen verbalen (Sprache) und nonverbalen Signalen (Mimik und Gestik).
- Viertens das Problemfeld Priorisierung. Menschen zeigen ein besonderes Interesse, eine Vorliebe/Tendenz oder ausgeprägte Neigung zu Themen und ordnen diese nach ihrer persönlichen Präferenz ein. Oder bevorzugen bestimmte Menschen und werten deren Informationen höher als andere von den an der Kommunikation beteiligten Personen. Oder stehen unter Zeitdruck und wollen nur eine Zusammenfassung der Informationen hören.
Falls Kommunikationsdefizite durch Störquellen bei einer Sender-Empfänger-Übertragung vorliegen, können diese reduziert und möglicherweise vermieden werden, wenn im Vorfeld Vereinbarungen getroffen werden, Informationen zielgruppenadäquat zu encodieren und decodieren. So könnten bspw. Fachbegriffe und eine Prioritätensetzung vermieden und der zwischenmenschliche Kommunikationsprozess (interpersonelle Umgang miteinander) geregelt werden.
Ein Informationsaustausch muss jedoch nicht zwangsläufig zwischen zwei Personen stattfinden, sondern es kann sich auch um eine Kommunikation zwischen Mensch und Technik handeln. Denken wir hier beispielsweise an die Bereiche „Erweiterte Realität (Augmented reality)“, also an die Wahrnehmung von Realbildern mit zusätzlichen Informationen, oder an “Mensch-Computer-Interaktionen” (bspw. kommuniziert ein Mensch über die Sprachsteuerung eines Bordcomputers mit dem Fahrzeug). Dementsprechende störende Prozesse sind innerhalb der Problemfelder durch technische Komplikationen anzusiedeln.
Quellenverzeichnis
Cherry, C. E. (1953). Some experiments on the recognition of speech, with one and with two ears. In: Journal of the Acoustical Society of America. Vol. 25, Nr. 5, 1953, S. 975–979.
Hermanni, A.-J. (2019). Problemfelder der Kommunikationsvermittlung. Vorlesungen an der SRH Fernhochschule - The Mobile University.
Krämer, S. (2008). Medium, Bote, Übertragung: Kleine Metaphysik der Medialität. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
McLuhan, M. (1964). Understanding Media: The Extensions of Man. New York: McGraw-Hill.
Noë, A. (2004). Action in Perception. Cambridge, MA: MIT Press.
Pörksen, B., & Schulz von Thun, F. (2008). Kommunikation als Lebenskunst: Philosophie und Praxis des Miteinander-Redens. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
Shannon, C. E./Weaver, W. (1949). The Mathematical Theory of Communication. In: The Bell System Technical Journal 27 (3-4), S. 379-423, 623-656. Shannon und Weaver waren Mathematiker bei der Bell-Telefon-Gesellschaft.