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Desorientierung durch Informationsüberflutung: Die dritte Dimension digitaler Belastung.

DOI: 10.5281/zenodo.17804847

Prof. Dr. Alfred-Joachim Hermanni


1 Einleitung
1.1 Problemaufriss: Informationsüberflutung in der modernen Arbeitswelt
Die heutige Arbeitswelt ist durch eine nie dagewesene Dichte an Informationen, Kommunikationskanälen und digitalen Reizen geprägt. Erwerbstätige, insbesondere Beschäftigte an Bildschirmarbeitsplätzen und Wissensarbeiter, sind permanent damit konfrontiert, Informationen zu verarbeiten, zu priorisieren und kritisch zu bewerten. Diese Dauerbelastung kann zu einem Zustand führen, den diese Studie als Desorientierung durch Informationsüberflutung beschreibt – eine neue Dimension digitaler Belastung, die über die bekannten Phänomene Information Overload (Toffler, 1970) und Information Burnout (Maslach, 1997) hinausgeht.


1.2 Grenzen menschlicher Informationsverarbeitung und digitale Beschleunigung
Der Kern der Problematik liegt darin, dass Informationsfülle nicht nur quantitative, sondern qualitative Grenzen kognitiver Verarbeitung überschreitet. Multitasking, ständige Erreichbarkeit und fehlende Phasen der Reflexion führen zu einer schleichenden Erosion von Orientierung, Entscheidungsfähigkeit und psychischer Stabilität. Frühere Studien zu Technostress (Brod, 1982; Tarafdar et al., 2011) bekräftigen, dass Menschen sich an technische Systeme anpassen müssen – nicht umgekehrt. Diese Anpassung erzeugt ein Paradox: Die Werkzeuge, die Effizienz steigern sollen, schaffen zugleich Unübersichtlichkeit und emotionale Erschöpfung.


1.3 Gesellschaftliche und arbeitsbezogene Relevanz des Untersuchungsgegenstands
Die Relevanz des Phänomens digitaler Desorientierung zeigt sich nicht nur auf individueller Ebene, sondern in gesamtgesellschaftlichen und organisationalen Entwicklungen. Zahlreiche Untersuchungen weisen darauf hin, dass digitale Arbeitsumgebungen zunehmend durch Fragmentierung von Aufmerksamkeit, permanente Unterbrechungen und hohe Informationsgeschwindigkeit geprägt sind (Davenport & Beck, 2001; Rosa, 2013). Für Unternehmen bedeutet dies ein steigendes Risiko von Fehlentscheidungen, ineffizienten Arbeitsprozessen und Produktivitätsverlusten. Für Erwerbstätige wiederum führt die kontinuierliche Konfrontation mit heterogenen Informationsquellen zu einer Überforderung der kognitiven Kontrollsysteme, die für Orientierung, Priorisierung und Problemlösung essentiell sind.

Hinzu kommt, dass Organisationen verstärkt datenzentriert arbeiten, wodurch Beschäftigte in Entscheidungs- und Kommunikationsprozessen häufiger mit informationsintensiven Aufgaben konfrontiert sind. Gerade in wissensintensiven Branchen wie Gesundheit, Bildung oder IT tritt die Problematik besonders deutlich hervor. Die gesellschaftliche Bedeutung des Themas wird dadurch unterstrichen, dass Informationsüberlastung und digitale Erschöpfung zunehmend als volkswirtschaftlich relevante Belastungsfaktoren diskutiert werden. Die vorliegende Studie setzt genau an dieser Schnittstelle an und untersucht, wie Informationsüberflutung in Kombination mit Technologieabhängigkeit zu Desorientierung und psychischer Belastung führt.


1.4 Theoretische Forschungslücke: Warum ein neues Konzept notwendig ist
Obwohl Informationsüberlastung (Information Overload, Toffler, 1970) und emotionale Erschöpfung (Information Burnout, Maslach, 1997) seit Jahrzehnten wissenschaftlich untersucht werden, bleibt ein zentraler Aspekt digitaler Belastung bislang weitgehend unbeachtet: der Verlust kognitiver Orientierung. Dieser Zustand stellt keine Zwischenphase zwischen Overload und Burnout dar, sondern eine dritte, qualitativ neue Ebene digitaler Beanspruchung.

Während Overload primär die quantitative Überforderung durch Informationsmengen beschreibt und Burnout die emotionale Erschöpfung infolge dieser Überlastung, zeigt Information Disorientation einen weitergehenden Prozess: die Desintegration kognitiver Strukturierungsmechanismen. Betroffene verlieren die Fähigkeit, Informationen sinnvoll zu ordnen, Relevanz zu erkennen und Prioritäten zu setzen. Dadurch wird nicht nur die Informationsverarbeitung erschwert, sondern die gesamte Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit beeinträchtigt.

Mit diesem Ansatz wird eine theoretische Lücke geschlossen, die in klassischen Modellen der Informationsverarbeitung (Simon, 1947), der kognitiven Belastungstheorie (Sweller, 1988) und der Technostress-Forschung (Tarafdar et al., 2011) bislang unzureichend erfasst wurde. Erst durch die Einführung dieser dritten Stufe des digitalen Belastungssystems lässt sich die Entwicklung von Informationsüberflutung hin zu Kontrollverlust und kognitiver Desorganisation vollständig beschreiben.


1.5 Praktische Relevanz und organisationale Konsequenzen
Die praktische Bedeutung der neuen Konzeptualisierung zeigt sich insbesondere in organisationalen Kontexten. Unternehmen sehen sich zunehmend mit Problemen konfrontiert, die direkt aus orientierungsbezogenen Belastungen resultieren:
• Ineffiziente Entscheidungen, weil Beschäftigte Informationen nicht mehr angemessen filtern können.
• Steigende Fehlerquoten, insbesondere in Tätigkeiten, die hohe Aufmerksamkeit oder kontinuierliche Informationsverarbeitung erfordern.
• Arbeitsverdichtung und Zeitdruck, die durch fehlende Informationsstrukturierung verstärkt werden.
• Wachsende mentale Belastung, da Kontrollverlust empirisch ein wesentlicher Faktor psychischer Erschöpfung ist.

Für Organisationen ergibt sich daraus ein klarer Handlungsbedarf: Prozesse müssen so gestaltet werden, dass kognitive Orientierung unterstützt und Informationskomplexität reduziert wird. Dazu gehören Maßnahmen wie klare Kommunikationskanäle, strukturierte Informationsflüsse, digitale Achtsamkeit, Priorisierungsmechanismen und adaptive Arbeitszeitmodelle.

Information Disorientation ist somit nicht nur ein theoretisches Konstrukt, sondern ein organisationspraktisch relevantes Steuerungsinstrument: Es ermöglicht Unternehmen, Belastungen frühzeitig zu identifizieren und gezielte Interventionen auf individueller und struktureller Ebene zu entwickeln.

1.6 Zielsetzung der Studie
Ziel dieser Arbeit ist es, diese Entwicklung empirisch zu fassen und theoretisch zu verorten. Aufbauend auf bestehenden Konzepten zur Informationsverarbeitung und digitalen Arbeitsbelastung wird Information Disorientation als eigenständiges Konstrukt vorgeschlagen. Damit wird eine Forschungslücke geschlossen zwischen kognitiver Überforderung, emotionaler Erschöpfung und dem Verlust von Orientierung in digitalisierten Arbeitsumgebungen.

1.7 Aufbau der Studie
Abschließend orientiert sich die Struktur der Untersuchung an einem klaren wissenschaftlichen Aufbau: Kapitel 2 entwickelt den theoretischen Rahmen, Kapitel 3 beschreibt das methodische Vorgehen, Kapitel 4 präsentiert die empirischen Befunde, Kapitel 5 diskutiert die theoretische Einordnung und Bedeutung der Ergebnisse, und Kapitel 6 formuliert praxisorientierte Schlussfolgerungen für Organisationen und Gesellschaft.


Die komplette Studie können Sie hier abrufen: