Wie kleine Scharmützel die große Diskussion verhindern.

Von Prof. Dr. Alfred-Joachim Hermanni

23.08.2021

"Horizont", die Plattform für Marketing, Werbung, Medien & Agenturen, hat mich am 23. August 2021 zum Wahlkampf in den sozialen Medien befragt. Nachstehend können Sie das vollständige Interview zwischen Klaus Janke (Horizont) und mir  gern nachlesen.


Horizont: Haben die Parteien unterschiedliche Prioritäten bei den verschiedenen sozialen Kanälen - oder bespielen alle alles gleich stark?

Hermanni: Der Wahlkampf in Deutschland wird längst nicht mehr nur im Fernsehen, auf Plakaten oder Bühnen ausgetragen. Er findet im Internet und hier vorzugsweise in den sozialen Netzwerken statt, wobei die entsprechenden Kanäle weitgehend identisch bedient werden, und zwar in der Wort- wie Bildsprache. Reflektieren wir einmal die derzeitigen Auftritte der Kandidierenden: 

Armin Laschet, der sich als Unionskandidat für das Bundeskanzleramt lange in der Rolle des Moderators gefiel, aber selten Flagge zeigte, nimmt inzwischen den Wahlkampf ernst. Seine aktuellen Themen im August lauten: Die Evakuierungsaktion in Afghanistan muss sofort beginnen, Wahlkampfauftritt bei der Jungen Union, Baufortschritte bei der Tesla Gigafactory, den Bevölkerungsschutz stärken und die Corona-Lage. 

Der SPD-Kandidat Scholz signalisiert ein staatsmännisches Auftreten wie beim CDU-Kandidaten Laschet. Aber auch er begreift erst verspätet im August, dass der Wahlkampf endlich starten sollte und stellt diesen unter das Motto „Scholz packt das an“. Darunter verstehen er und seine Partei Themen wie bezahlbaren Wohnraum, stabile Renten, faire Löhne für alle und eine moderne, klimaneutrale Wirtschaft. 

Annalena Baerbock von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, zielt mit ihren Ansagen nicht mehr wirklich auf das Kanzleramt, sondern nach den persönlichen Skandalen eher darauf, dass die Partei bei der Bundestagswahl gut abschneidet und an der Regierungsbildung beteiligt wird. Ihre gegenwärtigen Themen sind Kommunalwahlen in Niedersachsen, regionale Daseinsvorsorge im Grundgesetz verankern, eine neue Rechtsform für Verantwortungseigentum, die Berliner Mauer, das Ende des Bergbaus und eine atomfreie Welt. 

Der FDP-Kandidat für das Spitzenamt, Christian Lindner, tritt nach wie vor als Kritiker auf. Er weist auf Defizite hin und pocht auf die persönliche Freiheit der Bürger:innen. Seine aktuellen Themen sind einen festen CO2-Deckel für unsere Gesellschaft, gezielte Steuerentlastung, eine faire Wahlrechtsreform, Deutschland muss Gründungen stärken und die Corona-Lage.

Horizont: Für welche Inhalte werden Facebook, Instagram, YouTube, Xing, Linkedin, TikTok etc. gebraucht? Welche Funktionen haben sie?

Hermanni: Durch regelmäßige informelle Beiträge in den sozialen Netzwerken lassen sich ein digitales Image aufbauen und die eigenen Standpunkte sowie politischen Botschaften im Vergleich zu den Mitbewerberinnen und Mitbewerbern darlegen.
Bei einer aktuellen Befragung im August 2021 „Welche sozialen Netzwerke nutzen Sie regelmäßig?“ lagen in der Altersgruppe 18 bis 64 Jahre Facebook und YouTube mit rund 70% an der Spitze, gefolgt von Instagram (56%) und TikTok (26%). XING sowie LinkedIn dienen als Business Portale und haben die meisten User zwischen 30 bis 49 Jahre.
Der Wahlkampf im Internet soll im Wesentlichen vier Erfolgsfunktionen für die Parteien und Kandidaten erfüllen:

  1. Eine Informationsfunktion: In diesem Kontext können Parteien und Kandidaten eine Fülle an Angaben zu Personen und zu unterschiedlichen Themen platzieren.
  2. Eine Vernetzungsfunktion: Parteien und Wahlkämpfer können sich mit Parteifreunden sowie potenziellen Wählern zu einem Netzwerk verknüpfen.
  3. Eine Teilhabefunktion: Fans und Follower können die Beiträge lesen und sich aktiv oder passiv an einer Diskussion oder einem Thema beteiligen.
  4. Eine Mobilisierungsfunktion: Von zentraler Bedeutung ist es, dass die Parteien es schaffen, die User zu einer aktiven Handlung zu bewegen – also, dass sie idealerweise einer Person oder Partei ihre Wählerstimme geben.

Horizont: Wie stark werden die Aktivitäten zum Wahlkampf in den sozialen Medien überhaupt beachtet? Wie groß ist die Resonanz?

Hermanni: Der Online-Wahlkampf hat sich als wirkungsvolles Kommunikationsinstrument seit den 1990er Jahren herauskristallisiert, obwohl das Fernsehen bis auf Weiteres das zentrale Wahlkampfmedium bleibt.  Spätestens seit der Bundestagswahl 2017 beziehungsweise der Europawahl 2019 investieren die deutschen Parteien immer mehr Geld, Zeit und Personal in ihre digitalen Kampagnen. In diesem Kontext ergeben sich Möglichkeiten, Wähler und andere Zielgruppen gezielt über Social Media-Plattformen anzuschreiben, bspw. über das Microtargeting. Die Beiträge sind dann passgenau auf die Persönlichkeitsmerkmale der Rezipienten zugeschnitten. Bei einer Untersuchung zu der Frage, welche Phänomen im Bundestagswahlkampf eine Rolle spielen werden, antworteten immerhin 68 Prozent der Befragten, dass sie sich dies vorstellen können. Wahlkampf-Experten gehen davon aus, dass Wahlen zunehmend über soziale Medien gewonnen werden, wobei das deutsche Engagement der Parteien noch nicht mit dem US-amerikanischen zu vergleichen ist. Um es an einem Beispiel zu verdeutlichen: Rund 38 Millionen US-Dollar hat Donald J. Trump allein auf seiner Facebook-Seite von Mai 2018 – Mai 2020 für Wahlwerbung ausgegeben.

Horizont: Unterscheiden sich die Parteien in puncto Aggressivität/Fairness?

Hermanni: Im Großen und Ganzen geht es bei den Aussagen der Parteien beziehungsweise bei den Kandidierenden sehr gesittet, überaus kultiviert zu. Das muss uns Wähler:innen aber nicht wundern, denn gegenwärtig konkurrieren die beiden Spitzenkandidaten Olaf Scholz und Armin Laschet um die gleichen Koalitionspartner Grüne und FDP in einem Dreierbündnis. Bei diesem Wettkampf achten sie vor allem darauf, die umworbenen Parteien nicht zu beschädigen, weil die beiden Spitzenpolitiker ein ausgeprägtes Machtdenken charakterisiert. Zugespitzt lautet ihr Credo: Hauptsache, ich werde Bundeskanzler. Allein mit Wertschätzung kann man aber keinen erfolgreichen Wahlkampf bestreiten, zumal sich die beiden Spitzenkandidaten bei der Performance zu ähnlich sind. Wo bleiben vor allem die inhaltlichen Angebote, die sich deutlich voneinander unterscheiden lassen und klare Kante zeigen? Ganz zu schweigen von einem Gestaltungswillen, der in schwierigen Situationen Fähigkeiten wie Durchsetzungsvermögen aufweist. Darüber hört und liest man wenig bei den Kandierenden innerhalb der sozialen Medien. Die Bürger:innen spüren, dass es bei dieser Bundestagswahl vordergründig nicht um Inhalte geht, sondern um Selbstzweck.

Horizont: Ist die Kommunikation der einzelnen Parteien konsistent oder fraktal bzw. sogar widersprüchlich?

Hermanni: Die inhaltlichen Statements können zuweilen als widersprüchlich bezeichnet werden, was aber vor allem daran liegt, dass sich die politische Lage kontinuierlich ändert und dementsprechend aktuelle Informationen lanciert werden.
In der Gedankenführung weitgehend konsistent sind die Ausführungen von Bündnis 90/Die Grünen und der FDF, die sich überwiegend der Umweltpolitik beziehungsweise liberalen Werten widmen. Fraktale Ansätze sind bei SPD und CDU/CSU festzustellen, die bisweilen von einem Thema zum anderen springen, statt überschaubare Schwerpunktthemen zu bilden. Eine vielfältig gebrochene Informations- und Argumentationskette macht es schwer für die Wähler:innen, die Begründungen nachzuvollziehen und konkrete Vorstellungen zu ermöglichen.

Horizont: Welche Politiker beherrschen den Einsatz der sozialen Medien besonders gut, welche weniger?

Hermanni: Hier liegen der FDP-Kandidat Christian Linder und der ehemalige Kanzlerkandidat Markus Söder von der CSU deutlich vorn, weil ihre Wahlkampfauftritte und Verhaltensweisen authentisch erscheinen und die Erwartungen der User offensichtlich erfüllt werden. Aufgrund des heutigen Datenmaterials kommt Lindner bei Facebook und Instagram insgesamt auf rund 496.000 Follower, Söder sogar auf 569 000. Annalena Baerbock ist bei dem Foto- und Video-Online-Dienst Instagram mit 254 000 Followern durchaus gut vertreten, schwächelt aber bei Facebook mit 71 000 Followern. Laschet und Scholz schneiden im Verhältnis zu den Mitgliederzahlen von CDU/CSU (ca. 545 000) bzw. SPD (419 000) keinesfalls erfolgreich ab: Der CDU/CSU-Kanzlerkandidat konnte 122 000 Follower gewinnen, der SPD-Kandidat nur 73 000. Demokratiekritisch zu betrachten ist, dass die rechtspopulistische AfD und die links-sozialistische Die Linke mehr Fans bei Facebook verzeichnen als die bürgerlichen Parteien. Politisch extreme Positionen ziehen bei dieser Plattform offensichtlich mehr User an als konservative, sozialdemokratische, liberale oder grüne.

Horizont: Welche Bedeutung hat die Bildsprache im Rahmen von Wahlkämpfen?

Hermanni: Wahlkampfstrategisch schlecht beraten sind die Parteien, die eine visuelle Kommunikation vernachlässigen. Insbesondere junge Menschen favorisieren die Bildsprache innerhalb der sozialen Medien, die bei Menschen vor allem Gefühle und Sinne anspricht. Ein weiterer Schwachpunkt kommt bei zahlreichen Politikerauftritten in den sozialen Medien hinzu: Fotos oder Videos, auf denen die Kandidierenden mit Schrittmacher- oder Vorbildfunktionen wahrgenommen werden, sind kaum zu entdecken. Um es an einem Beispiel zu verdeutlichen: Gestellte Aufnahmen, die Besuche des CDU-Kandidaten Armin Laschet im Boxring oder bei Tesla zeigen, reichen nicht. Das ist Wahlkampfbusiness as usal. Der Unionskandidat hätte sich lieber in seiner Freizeit als Krisenmanager in seinem Bundesland Nordrhein-Westfalen betätigen und den Flutopfern beim Aufräumen und Wiederaufbau einer Stadt beistehen sollen, und zwar in Gummistiefeln und mit hochgekrempelten Ärmeln. Aber ich sehe auch keine Bilder von Herrn Scholz bspw. in Sachen Klimaschutz, wie er sich auf einem Bauernhof körperlich betätigt und Umweltthemen wie Überdüngung, Pestizideinsatz und Tierhaltung widmet. Noch ein Hinweis: Alle Parteien (außer AfD) vernachlässigen YouTube, obwohl gerade hier junge Wähler anzutreffen sind.


Hier noch einmal ein Ausschnitt aus dem Interview als PDF:


Und der Link zu Horizont:  https://www.horizont.net/medien/nachrichten/wahlkampf-in-den-sozialen-medien-wie-kleine-scharmuetzel-die-grosse-diskussion-verhindern-193790 











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